Die letzte Woche bis zum großen Tag
Ich trainierte also so vor mich hin und arbeitete tapfer den Plan ab und versuchte, meinen Rücken so gut es ging zu stärken. Bis jetzt spürte ich nichts und war froh, dass ich auch bei den längeren Laufeinheiten von Rückenschmerzen verschont blieb. Nun nimmt man das eigene Wohlbefinden oft als Selbstverständlichkeit hin, bis eine Krankheit einem schmerzlich bewusst macht, dass Schmerzfreiheit eben kein Selbstläufer ist. Umso wichtiger war mir, dass ich immer wieder meine Dankbarkeit gegenüber dem eigenen Körper innerlich zum Ausdruck gab.
Dann brachen die letzten zwei Wochen an, in denen das Training merklich reduziert wird. Erklärt wird in den Laufbüchern diese sogenannte „Tapering-Phase“ mit der Notwendigkeit für den Körper, Bänder und Sehnen zu stabilisieren und natürlich aus einem relativ ausgeruhten Zustand den sehr langen Lauf von über 42 Kilometern anzutreten. Logisch macht das Sinn, doch das Gefühl ist irritiert und weil ich plötzlich gar nicht mehr so viel trainierte, fragte ich mich dann, wie ich so viele Kilometer schaffen sollte, wenn ich kaum noch lief? Hinzu kam, dass die letzten Läufe gar nicht mehr so dynamisch flutschten wie weitaus längere Trainingsläufe in den Wochen zuvor. Und dann kam auch noch ein diffuser Phantomschmerz dazu, der kurzfristig stechende Schmerzen in diversen Körperteilen verursachte und mich wieder einmal zweifeln ließ, ob das denn noch was werden würde mit dem Marathon. Alles Kopfsalat? Wie schön, dass ich gerne koche und da sich nun der Laufplan dem Ende zuneigte, konnte ich ihn durch einen Essplan ersetzen, bei dem ich viel Mühe auf die richtigen und vor allem die richtige Menge an Kohlenhydraten und Eiweißen verwandte. So war der Kopf wenigstens abgelenkt und die Motorik konnte sich am Herd austoben.
Der große Tag ist da: Das Laufspiel kann beginnen!

Einen Tag vor dem Marathon ging es dann endlich los Richtung Frankfurt. Meine Phantomschmerzen kamen wieder und gingen, aber zum Glück zwickten sie mich nicht im Rücken, sondern in den Beinen oder Füßen. Nachdem wir im Hotel eingecheckt hatten, gingen wir zu Fuß die Strecke in Richtung des Startbereichs ab und kalkulierten schon einmal die Zeit ein, die wir dann am folgenden Tag für den Fußmarsch benötigen würden. Ich hatte verschiedenartige Laufkleidung eingepackt, um für jedes Wetter gewappnet zu sein, wenngleich die Wettervorhersage nichts Gutes in Aussicht stellte: Regen, stürmische Böen und kalte 4 Grad waren angesagt. Nicht gerade das Traum-Wetter für mein Marathon-Debüt! Ich fing schon einmal prophylaktisch bei dem bloßen Gedanken an herabklatschende Wassermassen zu bibbern an, musste dann aber im Kopf eine pragmatische Lösung finden, die mich zur Ruhe bringen würde und sich manifestierte in dem Satz „Es kommt, wie es kommt.“

Nun waren es nur noch wenige Stunden bis zum Startschuss, als wir die Hallen der Frankfurter Festhalle betraten. Auf der Bühne lief die ganze Zeit eine Show mit Interviews von Lokal- oder Lauf-Ikonen wie dem deutschen Marathon-Rekordhalter Arne Gabius. In der Halle selbst wuselten Läufer herum, die entweder der Show zusahen, etwas aßen oder ihre Laufunterlagen nach Goodies und Informationen durchwühlten. Alles war angelegt wie ein großes Happening mit Showdown auf einem roten Teppich, der die Läufer im Zielbereich direkt in die Festhalle lenken würde, wo sie dann ein multimediales Empfangskomitee aus Lichtreflexen und antreibender Musik erwartete, im besten Fall noch angefeuert von den Zuschauern, die sich am folgenden Tag in den Rängen tummeln würden. Wir gesellten uns zu anderen Läufern dazu, um ein wenig das Prä-Marathon-Feeling aufzusaugen und kamen dabei ins Gespräch mit einem jüngeren Läuferpaar, die den Frankfurt Marathon schon mehrfach gelaufen waren und uns vor der berüchtigten „Mainzer Landstraße“ warnte: „Die Straße ist die Hölle, da brechen die meisten Läufer ein und der Mann mit dem Hammer kommt ja dann auch meistens auf der Strecke“. Mein Herz rutschte schon einmal in die Hose. Ich hatte mich mit meinem akribischen Essplan auch vor diesem Damoklesschwert namens „Mann mit dem Hammer“ schützen wollen, aber vielleicht konnte man ihm auch gar nicht entkommen und jeder Läufer musste unweigerlich mit ihm in Kontakt kommen? Im Training lief ich maximal 34 Kilometer und dieser Mann kam angeblich danach, also konnte ich ihm im Training noch nicht begegnet sein; er blieb bis dato eine unbekannte, angsteinflößende Größe für mich. Ich fragte Patrick, der ja schon einige Marathons gelaufen war, nach seiner Erfahrung und er berichtete, dass es ein Gefühl der absoluten Schwäche sei, so als wolle man absolut auf keinen Fall mehr weiterlaufen. Der Kopf sperrt sich und soll doch den Beinen den Befehl erteilen, weiterzumachen. Es lief ganz offensichtlich auf einen mentalen Kampf heraus. Ich entschied mich, den „Mann mit dem Hammer“ in Gedanken mit einer niedlichen Comicfigur zu schlagen und entschied mich für „Amy mit dem Hammer“, die im Zweifelsfalle diesem Dämon den Garaus machen würde und den Schrecken nehmen würde.
Am Vorabend

Zurück im Hotel, richteten wir akribisch unsere Laufkleidung und befestigten schon einmal die Startnummern an den Oberteilen, damit wir dies nicht am nächsten Morgen erledigen mussten. Die Stunden verflogen nun nur noch so und die Nervosität stieg unbarmherzig an und ließ mir das Herz höherschlagen. Ich hatte plötzlich Angst, durch den fehlenden Schlaf völlig übermüdet an der Startlinie zu stehen und gab mir den inneren Befehl, endlich zu schlafen, was die Sache nicht besser machte. Mein Gedanken-Karussell war in vollem Gange und hinderte mich erst recht daran, einzuschlafen. Ich fand nur schlecht in den Schlaf, der mir ganz oberflächlich erschien. Am nächsten Morgen klingelte der Wecker unbarmherzig um 6 Uhr 30, aber glücklicherweise wurde in der Nacht die Sommerzeit wieder auf die Winterzeit zurückgestellt, sodass uns eine Stunde geschenkt wurde, die ich bitter nötig hatte.
Der Wettkampftag bricht an
Ich war zwar müde, aber gleichzeitig sehr wach und angespannt. Mein Frühstück, ein helles Brötchen mit Honig sowie ein Rosinenbrötchen, begleitet von grünen Matcha Tee, entsprach nicht unbedingt meiner sonstigen Gewohnheit, aber die Nahrung sollte eben nicht zu lange im Magen verweilen, sondern schnell verfügbare Energie liefern. Schließlich legten wir uns wie Gladiatoren vor der Schlacht unser Rüstzeug an: Ich schnallte mir meinen Laufgurt, gefüllt mit Isogetränk und Wasser, um wie ein Cowgirl den Munitionsgürtel und fühlte mich nun sehr wehrhaft und stark genug, um dem zu trotzen, was da kommen würde. Mein Blick aus dem Fenster gab mir sogleich einen Dämpfer: Die Bäume bogen sich vor dem peitschenden Wind und neigten sich vor dem grauen Himmel, der hoffentlich nicht so schnell seine Schleusen öffnen würde. Auf dem Weg zum Marathongelände wurde mir nun schon etwas mulmig, doch zum Glück konnten wir uns bis kurz vorm Start in der Messehalle vor Kälte und Wind schützen. Doch um kurz vor 10 war die Schonfrist vorbei. Patrick und ich verabschiedeten uns voneinander, wünschten dem anderen viel Glück und machten uns auf den Weg in unsere Startblöcke. Er zog von dannen in seinen vorderen Block und ich trollte mich nach hinten. Von nun an war ich auf mich allein gestellt.
An der Startlinie
Um mich herum war die Anspannung fast physisch greifbar. Adrenalin pulsierte offenbar in allen Körpern, die mich umgaben und ich konnte es auch riechen – dieser stechende Schweißgeruch, der von so manchen Läufern ausging, die rochen, als hätten sie bereits einen Marathon hinter sich. Ich wechselte ein wenig meine Position und schob mich aus der Zone mit dem heftigen Odeur heraus. Der Moderator feuerte vorne bereits die Läufer an, die über die Startlinie durften. Dort würde auch Patrick dabei sein. Ich stellte mir vor, wie er da schon rennt, vollkommen fokussiert auf das Ziel. Aus den Boxen an der Seite schallte laute, antreibende Popmusik. Ich wurde zusammen mit den anderen Läufern um mich herum von einer Welle der Euphorie ergriffen. Wie Rennpferde, die darauf warteten, endlich lospreschen zu dürfen, scharrten wir mit den Hufen in Form von Laufschuhen. Manche hüpften auf der Stelle, andere dehnten sich, während die ganz Coolen die ersten wichtigtuerischen Gespräche darüber führten, in welcher Pace sie denn anlaufen wollten und welche Zeit anvisiert war. Ich hatte mir eine Zielzeit von 4 Stunden 15 gesetzt und überlegt, in einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 5 Minuten 55 Sekunden pro Kilometer zu laufen. Die Zeiten hatte ich mir an meinem Schweißband befestigt. Doch erst einmal musste ja die Startlinie passiert werden! Endlich wurde die Bahn für unseren Block freigegeben uns so bewegten wir uns zunächst wie ein zäher Lindwurm gehend nach vorne. Dort blieben wir stehen, warteten geduldig auf die letzten aufpeitschenden Worte des Moderators, bis dann endlich der Startschuss auch für uns fiel! Ich drückte den Startknopf meiner Laufuhr und rannte los. Erst einmal waren wir noch etwas behäbig unterwegs, denn durch die Masse an Menschen um mich herum gelang es mir gar nicht, meine anvisierte Zeit einzuhalten. Erst nach 2 Kilometern hatte sich das Feld etwas auseinandergezogen und ich konnte mein Tempo laufen. Ich war angespannt und lief erst einmal im Strom mit, versuchte, meine Zeit aufzuholen und spürte einen leichten Schmerz im Oberschenkel. Offenbar hatte ich doch etwas zu lange in der Kälte gestanden. Ich hoffte, dass der Oberschenkel mich nicht weiter beeinträchtigen würde und lief die ersten 13 Kilometer durch die Frankfurter Innenstadt, an hohen Wolkenkratzern und der Alten Oper vorbei – eine aufregende Kulisse, die mir immer wieder zwischendurch ein Hochgefühl gab. Alles lief im mehrfachen Sinn gut und ich ließ mich im Strom der Läufer mittreiben. Nachdem wir den Main zum zweiten Mal überquert hatten, waren schon 24 Kilometer geschafft und ich konnte mein Tempo laufen und fühlte mich gut dabei. Doch nun kamen starke Böen auf, die mich regelrecht zur Seite drückten. Ich kämpfte gegen den Wind an und trieb auf die berüchtigte Mainzer Landstraße zu.
Kommt der „Mann mit dem Hammer“?
Nun waren 30 Kilometer geschafft und ich lief und wartete auf den „Mann mit dem Hammer“, bereitete die Willkommensschlacht mit meiner inneren Amy vor, doch – er kam nicht auf Bestellung nach Kilometer 30. Ich lief wie ein kleines batteriebetriebenes Häschen diese öde, langgezogene Straße in dem grauen Industriegebiet entlang.

Meine Gedanken schweiften nun ab, zogen von einer Wolke zur nächsten, bis der 34. Kilometer anbrach. Ich realisierte, dass mich nun nur noch 8 Kilometer von dem roten Teppich in der Festhalle trennten, und ich rief mir innerlich zu „Hey, du schaffst das!“ Vollkommen euphorisiert spulte ich die Meter unter mir weg, bis ich bei Kilometer 36 die Festhalle im Vorbeilaufen von Weitem sah und mich voller Freude in die nächsten 6 Kilometer stürzte. Doch nun wurde ich kontinuierlich langsamer. Meine Beine wurden müde und ich schaffte es einfach nicht mehr, in meinem Tempo zu bleiben. Die Kilometer wollten nun nicht mehr so einfach vergehen und ich zählte jeden verdammten von ihnen herunter. Als ich den 39. Kilometer erreicht hatte, begann nun endlich mein innerer Kampf, auf den ich dachte, mich mit meiner imaginären Amy vorbereitet zu haben. Ich fühlte mich unendlich schwach, schaute immer wieder auf die Laufuhr, die mir erbarmungslos zeigte, dass ich doch nur 100 Meter weitergekommen war als beim letzten Mal. Nun drehte sich das Blatt und aus „nur noch 3 Kilometer“ wurden „Mist, immer noch 3 Kilometer“. Ich zwang mich, Haltung zu bewahren, um die Beine zu entlasten. Richtete mich auf, konzentrierte mich eisern auf meine Laufhaltung, um nicht ständig daran denken zu müssen, dass ich eigentlich nicht mehr weiterlaufen wollte. Neben mir am Sanitätsstand tauchte plötzlich ein junger Kerl auf, der ins Gehen gewechselt war und von einem Sanitäter zum Weiterlaufen animiert wurde: „Jetzt bist du schon so weit gekommen“ rief er ihm aufmunternd zu. Es war wie ein Appell auch an mich. Ja, ich war auch schon so weit gekommen, das würde ich schaffen!
Kurz vorm Ziel
Der letzte Kilometer brach an und ich pushte mich mit einem Stück Traubenzucker. Der Zucker spülte Energie in meine Adern und dann war ich im Tunnel. Ich kämpfte nun richtig und wollte es unbedingt schaffen. Endlich bog ich nach links ab und da sah ich sie – die Festhalle, die auf mich wartete wie das Walhalla auf einen Wikinger. Ich lief die letzten Meter – spürte meinen Körper mit seiner Müdigkeit und den Muskelschmerzen nicht mehr – und schwebte, begleitet von heroischer Popmusik, in die Festhalle auf den roten Teppich ein. Die Halle glitzerte wie tausend Disco-Kugeln gleichzeitig – bunte Lichter setzten fulminante Spotlichter auf den roten Teppich, der uns Läufer wie Helden nach einer gewonnen Schlacht ruhmreich empfing. Die rote Bahn war so eindrucksvoll und doch viel zu kurz, um das Gefühl ausgiebig auszukosten. Das alles sog ich begierig in mir auf, und dann lief ich endlich über die Ziellinie. Tränen stiegen in mir auf und ich sagte halblaut, fast ungläubig, zu mir selbst: „Ich bin Marathon gelaufen“. Das Wort schmeckte süß und wog doch so schwer – da fiel alle Last von mir ab und ich taumelte der wohlverdienten Medaille entgegen.
